Norbert, der Neandertaler
- David Hinder
- 19. Okt. 2018
- 4 Min. Lesezeit
Im wabernden Dunst des Nebels, der vom schneebedeckten Boden aufzusteigen schien, trat zwischen den Nadelbäumen eine hünenhafte Gestalt hervor. Die mächtigen Muskeln waren angespannt, die Haltung leicht gebeugt und dennoch nicht unterwürfig, denn diese Haltung kam nur von dem Gewicht des riesigen toten Säbelzahntigers, den dieser Berg von einem Mann auf seinen Schultern trug, gerade so, als sei es nicht mehr, als eine besonders schwere Lidl-Einkaufstüte. Dieser Mann war Neandertaler. Norbert, der Neandertaler. Norbert war der beste Jäger seines Stammes. Diesen Säbelzahntiger hatte er nur mit einer Kopfnuss erlegt. Zum einen, wegen der Herausforderung, zum anderen, weil der Kopf für Norbert die mit Abstand unwichtigste Extremität war. Der mächtige Jäger brachte seine Beute in die Haupthöhle, wo sie von Frauen zerlegt und unter den Stammesmitgliedern aufgeteilt wurde. Dann ging Norbert zum Medizinmann, wo er seine in Stein gemeißelte Krankenkassenkarte zückte, um seine Platzwunde am Kopf behandeln zu lassen. Endlich kam der große Jäger mit einer Keule vom Tiger unter dem muskulösen Arm heim in seine eigene Höhle. Dort wurde er schon erwartet, von seiner Frau Nadja Neandertal, einer Katalog-Frau aus Ost-Neandertal. „Ah, da bist du ja endlich!“ rief Nadja und zog sich ihr kurzes Leopardenfell zurecht, während sie in kleinen Trippelschritten auf ihn zulief. Norbert lieferte die perfekte Vorlage für ein Phallus-Symbol in einer Höhlenmalerei. Der große, muskelbepackte Jäger zog seine Nadja an sich, um mit ihr kleine Neandertaler zu machen, doch sie löste sich von ihm und sagte: „Jetzt nicht. Du hast Besuch!“ „Besuch? Fragte Norbert verwirrt. Doch dann dämmerte es. „Steht deshalb das Mastodon SLK draußen?“ „Ja,“ setzte Nadja an, doch ehe sie zu Ende sprechen konnte, schälte sich eine kleine Gestalt aus dem Schatten der Höhle. Sie war das genaue Gegenteil des riesigen, athletischen Norbert. Klein und gebeugt, mit dünnen Armen, fast haarlos, schlurfte sie auf Norbert zu und hielt ihm eine knochige Hand entgegen. „Gestatten,“ quakte eine bohrende Stimme, „Ich bin Ihr neuer Chef. Willkommen im Team.“ Norbert runzelte die sehr muskulöse Stirn seines sehr muskulösen Kopfes und legte die Keule vom erlegten Säbelzahntiger auf dem Fliesentisch ab. Dann schüttelte er die Hand des kleinen, haarlosen Mannes. „Was ist ein 'Chef'?“ fragte er verdutzt. Nadja rief aus dem hinteren Teil der Höhle: „Ein Chef ist jemand, der dich für deine Arbeit bezahlt, Schatz.“ „Ah!“ sagte Norbert, dessen muskulöser Kopf nicht verstand, was seine Frau da erzählte. „Richtig,“ nickte das kleine, haarlose Männlein. „In meinem Besitz sind die Produktionsmittel dieser Region.“ „Äh... was?“ „Er meint den Wald, Schatz,“ rief Nadja. „Ach so. Wieso?“ „Nun, ich habe ihn natürlich erworben,“ quakte das Männlein und seine Brust schwoll fast so sehr an, wie zuvor Norberts Phallus. Es griff nach dem großen Stück Fleisch auf dem Fliesentisch. „Danke für Ihre Arbeit. Die Fancy Fleisch GmbH, Dienststelle Neandertal, ist froh, Sie im Team zu haben, Norbert.“ Die Gier schien das kleine Männlein zu beflügeln, denn es konnte das schwere Stück Fleisch mühelos heben und schnurstracks nach draußen zu seinem Mastodon SLK bringen. Dort landete das Fleisch in einem Korb, wo bereits allerhand andere Tierteile zu finden waren. Norbert, der dem Männlein auf seinen unglaublich muskulösen Beinen gefolgt war (man nannte ihn auch den Beckenbauer des Neandertals), erkannte in dem Korb viele Teile des Säbelzahntigers, den er erlegt hatte. „Aber Chef, was bekomme ich denn dafür? Ich habe eine Frau zu ernähren!“ protestierte Norberts muskulöse Zunge wie von selbst.
„Aber, aber, Sie glauben doch nicht, dass ich meinen besten Jäger ohne Lohn zurücklassen werde,“ schnurrte das Männlein und schüttete einige kleine runde Steine in Norberts muskulöse Hände. „Das sind Steine,“ stellte dieser ungewöhnlich geistesgegenwärtig fest. „Nein,“ surrte das Männlein. „Das ist Währung. 500 Steinmünzen für Ihre gute Arbeit, Norbert.“ „Währung?“ Norberts muskulöse Schultern zuckten. Nadjas Stimme drang aus der Höhle: „Das gesetzliche Zahlungsmittel eines Landes! Die runden Steine wurden 34.000 vor Christus eingeführt!“ „Vor... wem...?“ stockte Norbert und kratzte sich das muskulöse Kinn. „Unwichtig.“ Das Männlein klopfte ihm auf die Schulter. „Wollen Sie die Miete für die Höhle jetzt oder später zahlen?“ „Miete...“ Norberts muskulöse Schläfe pochte. „Miete ist ein Preis, den man für etwas zahlt, das ein Eigentümer zur Verfügung stellt!“ kam Nadjas Stimme aus der Höhle. „Sie zahlen besser jetzt,“ knarzte das Männlein und zählte blitzschnell 400 Steine ab, die es in die Taschen seines Felldreiteilers wandern ließ.
„Jetzt habe ich ja nur noch... also ich habe viel weniger Steine!“ protestierte Norbert und stampfte mit dem muskulösen Fuß auf! „Nadja, wir suchen uns eine andere Höhle!“ Das Männlein hob mahnend den Finger. „So gute Konditionen werden Sie nirgendwo finden. Das Umland gehört bereits der Konkurrenz und die Lage hier ist super. Das ist eine Wachstumsregion.“ „Äh... Ach so,“ murmelte Norbert und leckte sich mit der muskulösen Zunge über die muskulösen Zähne. „Aber was soll ich nun essen? Ich habe ja nur noch Steine.“ „Gar kein Problem!“ rief das Männlein. „Fancy Fleisch hilft Ihnen gerne! Sehen Sie, ich habe diese Keule im Angebot! Nur 100 Steine!“ Das Männlein zeigte auf die Fleischkeule, die es Norbert zuvor abgenommen hatte. „Und wenn ich mehr will?“ fragte Norbert und kratzte sich die muskulöse rechte Pobacke. „Nun, haben Sie denn mehr Steine?“ fragte das Männlein. „Womöglich ein paar Ersparnisse? Der kluge Mann sorgt vor, nicht?“ Es lachte und zwinkerte Norbert zu. „Naja, hier liegen ja überall Steine rum...“ Norbert blinzelte mit den muskulösen Augenlidern. Plötzlich schaute das Männlein fürchterlich böse drein, so böse, dass sogar der muskelbepackte große Jäger Norbert Angst bekam und einen Schritt zurück machte. „Sie wollen doch keine Währung fälschen,“ knarzte das Männlein bedrohlich. „Das kann Sie ins Gefängnis bringen.“ Seine Augen blitzten. Norbert schluckte und sein muskulöser Gaumen bebte dabei. Obwohl er nicht wusste, was ein Gefängnis sein sollte, hatte er große Angst vor dem kleinen Mann. Als hätte sie es erraten rief Nadja aus der Höhle: „Ein Gefängnis ist ein Ort, in welchen man Straftäter steckt und ihnen für eine gewisse Zeit die Freiheit nimmt!“ Norberts muskulöses Herz raste vor Schreck. Die Freiheit nehmen? Nie wieder im Wald jagen, nie wieder bei seiner Nadja sein, nie wieder seine Muskeln mit Klimmzügen an Nadelbäumen trainieren? Nein, dachte Norbert. Dann bleibe ich lieber frei und jage für dieses Männlein und bekomme dafür Steine, um mir Essen zu kaufen. Norberts nicht allzu muskulöses Hirn hatte auf einmal Kopfschmerzen. Der Hühne stand kümmerlich und zusammengesunken da. Leise fragte er: „Sind Sie dieser Homo sapiens, von dem man überall hört?“ Das Männlein lachte. „Wollen Sie mich beleidigen? Ich bin der Homo Oeconomicus!“
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