Die Menschwerdung
- David Hinder
- 11. Sept. 2019
- 5 Min. Lesezeit
„Eine Eisscholle,“ stellte Herr L. nüchtern fest, als er sich umsah. Die Kälte griff beißend nach seinem Brustkorb und instinktiv versuchte er sich zu wärmen, indem er seinen Oberkörper rieb. Sein blauer Anzug hatte seinen Schiffbruch nahezu komplett überstanden, nur einen seiner Lackschuhe hatte Herr L. eingebüßt. Da seine klatschnasse Kleidung die ersten Eiskristalle bildete und seine Ärmel steif zu werden begannen und es überhaupt keine gute Idee war, hier einfach rumzustehen, musterte Herr L. seine Umgebung. Die Scholle selbst war überschaubar groß. Zu seiner Rechten, war ein kleiner Eisberg zu sehen. Davor watschelten ein paar... Pinguine? So weit im Norden? Herr L. entschied, sich darüber jetzt keine weiteren Gedanken zu machen. Er stapfte, einen Fuß auf bunt gestreifter Socke, zielstrebig über das weiße Eis auf den Berg zu, in der Hoffnung, ihn zu erklimmen und womöglich ein Schiff in der Nähe zu erblicken. Der Eisberg schien jedoch eher ein Eishügel zu sein. „Probleme sind nur dornige Chancen,“ murmelte er sich selbst ermutigend zu. Eine plötzliche Bewegung vor dem Eisberg ließ Herrn L. erstarren. Langsam richtete sich eine übermenschlich große Gestalt vor ihm auf, die so schneeweiß war, wie die Umgebung. Herr L. schluckte, wich einen Sockenschritt zurück, und schrie erschrocken auf: „Ein Yeti!“ Die riesige, weißhaarige Gestalt legte den Kopf schief, als wollte sie Missfallen ausdrücken, holte tief Luft, und grunzte: „Yeti? Das verbitte ich mir, mein Herr! Ich bin ein Eisbär, wenn's recht ist.“ „Du bist ein sprechender Yeti!“ „Ich wüsste nicht, dass wir schon beim 'Du' wären,“ schnaubte der Eisbär und setzte sich auf seine Hinterbacken. „Außerdem verbitte ich mir diese rassistische Diskriminierung. Ein Yeti ist ein Fabelwesen. Ich nenne Sie doch auch nicht Schweinchen Dick, nur weil ihre Haut rosa ist. Naja, im Moment ist sie auch eher blau.“
„Eisbären sind ausgestorben!“ belehrte Herr L. den Eisbären. „Sie können folglich nur ein Yeti sein.“ „Idioten sind offenbar noch nicht ausgestorben,“ schnaubte das Tier und musterte Herrn L. nachdenklich. „Wir müssen aber jetzt erst mal etwas gegen Ihre Unterkühlung tun, sonst sterben Sie mir noch weg.“ Es begann, am Fuße des Eishügelchens zu buddeln. Nach kurzer Zeit blitzte metallisch eine Luke im Sonnenlicht auf. „So, rein da mit Ihnen. Da finden Sie sicher alles, was Sie brauchen.“ Ein wenig verdutzt über sprechende Yetis und Luken im Boden stieg Herr L. hinab. Unter dem Eishügelchen musste wohl mal eine Forschungsstation gewesen sein. Herr L. fand dort Winterjacken, Thermodecken, Betten, Wasser und Rationen. Er machte sich daran, sich wintertauglich einzukleiden. Dabei fiel im ein Funkgerät auf. Schnell sendete Herr L. SOS, ehe er sich erschöpft schlafen legte. Die Rettung sollte man schließlich den Profis überlassen.
Er erwachte von einem Schaben, dem unangenehmen Ton von Fingernägeln an der Tafel, oder – wie in diesem Fall – Klauen auf Metall. „Sind Sie in Ordnung da unten?!“ rief die gedämpfte Stimme des Eisbären. „J-ja...“ stotterte Herr L. „Na, jetzt, wo Sie sich aufgewärmt haben, können Sie ja hinauf kommen und ein wenig mit mir plaudern.“ „Aber Herr Yeti...“ „Eisbär! Nennen Sie mich Herr Günni!“ „Von mir aus! Aber Günni...“ „Herr Günni! Wir sind hier doch nicht bei den Hottentotten!“ „In Ordnung, Herr Günni. Woher weiß ich, dass Sie mich nicht umgehend fressen werden, wenn ich die Luke öffne?“ „Ich bitte Sie! Wenn ich Sie hätte fressen wollen, hätte ich Ihnen wohl kaum die Luke gezeigt, meinen Sie nicht? Nun kommen Sie hinauf und bringen Sie mir einen Tee mit!“ Herr L. fand die Argumentation des Tieres durchaus einleuchtend. Er setzte also einen Tee an der kleinen Kochstelle auf und stand wenige Minuten später wieder auf der Oberfläche. Der Eishügel, so schien es, war etwas kleiner geworden. Herr Günni erwartete Herrn L. fröhlich. „Da sind Sie ja! Nun kann ich Sie offiziell begrüßen!“ Er räusperte sich und seine Stimme nahm einen feierlichen Ton an. „Ich heiße Sie hiermit als Flüchtling in der Arktis willkommen und gewähre Ihnen Asyl. Und jetzt, wo das erledigt ist, reichen Sie mir bitte den Tee.“ „Die Arktis? Asyl?“ Herr L. tat, wie ihm geheißen. Die Tatzen des Bären griffen mühelos die Tasse mit dem heißen Getränk. „Ganz recht, die Arktis. Den letzten Rest der Arktis sehen sie hier.“ Er machte eine kreisförmige Bewegung mit seinem Vorderbein. „Und ja,Asyl. Wenn ich das richtig sehe, waren Sie verfolgt von Gezeiten und womöglich auch Haifischen und haben Zuflucht an der Küste der Arktis gesucht. Das ist doch korrekt, oder?“ Über die Teetasse starrte der Eisbär den Mann interessiert an. „Nun... so kann man es ausdrücken. Aber sollten Sie als Eisbär mich nicht fressen wollen?“ Herr L. war immer noch etwas misstrauisch. „Eine Gegenfrage, mein Lieber: da, wo sie herkommen, fressen Sie ihre Asylanten?“ Herr L. schüttelte den Kopf und Herr Günni lächelte, was bei diesem Gebiss, trotz der Versicherung auf Asyl, ein wenig bedrohlich aussah. Während Herr L. auf seine Rettung wartete, traf er sich jeden Tag mit Herrn Günni. Die ersten Tage musste der Bär ihn noch herauslocken, doch bald kam Herr L. von selbst.
„Sagen Sie mal,“ fragte Herr L. am fünften Tag. „Wo kommen eigentlich die Pinguine her?“ „Na, was glauben Sie? Das sind auch Flüchtlinge, wie Sie. Deren Lebensraum ist eher geschmolzen, als meiner.“ Herr L. deutete auf die Rippen, die überdeutlich unter dem hängenden Fell zu sehen waren. Der Eisbär schien zu schrumpfen, wie der Eishügel. „Hand auf's Herz: warum fressen Sie uns Flüchtlinge nicht. Es geht doch um nichts weniger als Ihr Überleben.“ Herr Günni schwieg lange, ehe er antwortete. „Ich bin der Letzte meiner Art. Ich werde niemandem mehr das Leben nehmen. Was brächte das? Ihre Spezies hat noch eine Chance, so gering sie auch sein mag. Meine ist verloren.“ Seine Stimme klang matt und müde. Als Herr L. am sechsten Tag aus der Luke kletterte, war Herr Günni nirgendwo zu sehen. Er suchte den kläglichen Rest der Scholle ab und fand das Tier schließlich an der Stelle, wo mal der Gipfel des Eishügels gewesen sein musste. Der war aber inzwischen so flach, wie die Umgebung. Herr L. raste zu Herrn Günni. Dieser lag schwach und kläglich da, schien kaum noch Kraft zum Atmen zu haben. Immer, wenn ein Atemzug endete, dauerte es eine Ewigkeit, bis der nächste kam. „Herr Günni! Stehen Sie auf!“ rief Herr L. Dieser öffnete die Augen, das Lebensglimmen darin so schwach, und die Blicke von Mensch und Tier trafen sich. Leise, mit kaum hörbarer Stimme, röchelte das Tier etwas: „Für Sie... Günni...“ Der nächste Moment schien eine kleine Unendlichkeit zu dauern, beide ebenso unendlich tief miteinander verbunden, ehe ein letztes, knatterndes Röcheln das Licht aus diesen Augen für immer verschwinden ließ. Eine Träne kullerte über das Gesicht des Mannes. Sie gefror nicht. Am siebten Tag wurde Herr L. gerettet.
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