!!!111EINSELF111!!!
- David Hinder
- 25. Sept. 2018
- 3 Min. Lesezeit
Wir haben den 19.09.2018 und ich habe morgen einen Auftritt zum Poetry Jam im Subrosa. Und ich frage mich, worüber ich schreiben soll.
Zuerst dachte ich an mein Lieblingsthema: mich!
Aber wie? Ein antithetischer Ansatz vielleicht? Gut / böse, hell / dunkel, heiß / kalt? Das war mal voll in auf Flirtseiten, besonders bei Frauen: „Ich bin voll verrückt, aber auch total lieb!“ Mir dämmert noch während des Gedankenganges, dass das nicht funktionieren wird. Erstens, weil das nicht wirklich antithetisch ist – Wahnsinn und nett sein schließen sich nicht aus. Nicht umsonst gibt es Leute, die „wahnsinnig nett“ sind. Und zweitens, weil es mir an der nötigen Persönlichkeitsstörung mangelt, um „verrückt“ für mich zu deklarieren. Schade! Aber ein moderner, antithetischer Aufbau macht ohne das Wort „Verrückt“ leider keinen Sinn. Verrückt ist schließlich das neue „normal“. Voll crazy sind die Leute, die zu ihrem auf einem Webergrill zubereiteten Bratmaxe mal Chillisauce statt Ketchup nehmen und – sorry Leute – da bin ich raus. Da mir offenbar der Wahnsinn fehlt, einen Webergrill zu kaufen, und mir somit auch die süße Frucht der Antithetik verwehrt bleibt, muss ich wohl ein anderes Thema suchen. Politik! Ha! Darüber kann ich immer reden! Und zwar viel. Sehr viel! Reden wir über Politik! Aber worüber genau? Flüchtlinge? AfD? Rechte? Linke? Reden wir bei Opfern eines Flugzeugabsturzes auch darüber, wo genau die Passagiere gesessen haben? Vielleicht sollten wir lieber darüber reden, wieso das Flugzeug abstürzt. Dann müssten wir aber über Liberalismus, Lohnarbeit und Lobbyismus reden. Und ich habe nur sechs Minuten Zeit, also – sorry. Vielleicht ein andernmal. Diesen Text schreibe ich, während ich nebenbei bei Facebook prokastriniere. Jeden halben Absatz schaue ich, ob sich was Neues ergeben hat und siehe da, meine Mühen haben sich gelohnt! Endlich habe ich einen guten Grund, meine Aufmerksamkeit ganz Facebook zu widmen. In einer meiner Gruppen hat jemand einen Post aufgemacht, in dem es mal wieder um irgendeine RTL II-Arbeitslosenblamingsendung geht. In den Kommentaren ergeht man sich wie immer in den Klischees über faule, fette, saufende Arbeitslose, die alles geschenkt bekämen und für die „wir“ - wer immer das sein soll – aufkommen. Ich frage, ob es mal wieder Zeit für gescriptetes Unterschichten-Überhebungs-TV sei. Natürlich lässt das der/die kulturell versierte Halbbildungsbürger*in nicht auf sich sitzen und eine Frau antwortet, dass sie solche Leute ja auch in echt kenne und die wirklich alle so seien!!!einself! Ich überlege kurz, ob ich den Threadkiller-Post jetzt oder später mache. Ich entscheide mich für jetzt und schreibe eine lange Abhandlung über inhärente Fehler des Liberalismus, unreflektierte Narrative, Sozialisation, Habitus, Psychologie, die Agenda 2010, Arbeitsmarktpolitik und wer davon profitiert. Ich drücke auf Enter und schicke den Kommentar ab. Danach lehne ich mich zurück und bin mir verdammt sicher, dass mein Hirn echte „Balls“ haben muss – nur um eine Sekunde später darüber nachzudenken, dass ich der Frau die gleiche Überheblichkeit angetan habe, wie sie zuvor dem TV-Arbeitslosen. Aber verfickte Scheiße nochmal, krakelt die Rechtfertigungsstimme in meinem Hirn, wie soll man denn sonst mit all den Honks umgehen, die ihre saudämliche, unqualifizierte, nie reflektierte Bullshitstussmeinung jeden Tag auf Facebook und Twitter rauskotzen?! Einsen und Elfen fliegen durch mein Hirn, während ich einen Tinitus von der Gedankenstimme bekomme. Ich meine, neulich hat ein junger Mann geposted, dass er geweint hat, weil seine Freundin ihn verlassen hat. Der erste Kommentar darunter war: „Männer weinen nicht!“ Ich stellte die hochinvestigative Frage: „Warum?“ Die Antwort kommt prompt, in ihrer ganzen, herrlichen Unterkomplexität: „Weil sie Männer sind!“ Ich frage, ob Hundeschwänze deshalb wedeln, weil sie Schwänze sind. Und, falls ja, ob so ein wedelnder Schwanz beim Sex nicht eher störend sei. Keine Antwort. Aber ein lachender Smiley von Franziska, der Feministin. Inzwischen sind die Einsen und Elfen verschwunden und die Rechtfertigungsstimme hat sich schlafen gelegt. Ich schwöre mir selbst – wahrscheinlich zum einundelfmillionsten Mal in meinem Leben – dass ich in Zukunft nicht mehr so überheblich antworte, dass ich mit den Leuten und ihren falsch ansozialisierten „Tatsachen“ in Zukunft gelassener umgehe und nicht mehr sarkastisch, sondern sachlich und erklärend reagieren werde. „NÄCHSTES MAL!EINSELF!!!!“ brüllt meine Gute-Vorsatz-Stimme.
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