Das Surren einer Fliege
- David Hinder
- 19. Apr. 2018
- 5 Min. Lesezeit

Ihr Gesicht verzerrt sich, als hätte sie unbedacht einen Schluck vergammelter Milch aus dem Kühlschrank getrunken. „Was ist los?“ frage ich, während sich hinter ihr breit grinsend ein kleiner Typ mit Glatze zurückzieht. Sie schaut kurz in die Ferne, ein bisschen genervt vielleicht und antwortet: „Der Typ hat mir unter den Rock gefasst.“ Sie sagt das eigentümlicherweise ohne Zorn. Es ist eher, als spräche sie über eine lästige Fliege. Eine dicke, glatzköpfige Fliege. Das Bild verfängt sich in meinem Hirn. Ich sehe den Typen zu einer Gruppe Frauen surren, sehr wahrscheinlich, um seine Hand irgendwo landen zu lassen, wo sie nichts zu suchen hat. Einen Augenblick denke ich darüber nach, ihn zur Rede zu stellen. Solche Typen machen mich zornig. Aber ich schlucke meinen Zorn herunter, versuche das Brummen der schwirrenden Fliege einfach zu ignorieren. Ich will heute so einen Eklat nicht. Ich will heute feiern. Trinken, lachen, tanzen, Spaß haben, seichte Gespräche führen. Und mir nicht den Abend versauen, indem ich vergeblich versuche, eine Schmeißfliege zu fangen. Aber für Spaß ist es nun zu spät. Und auch, wenn ich mich dagegen wehre, die Gedankenspirale wird jetzt ihren Lauf nehmen. Und die nimmt üblicherweise keine Rücksicht darauf, was ich eigentlich will. Die meisten Männer sprechen über ihren Penis, als habe er ein Eigenleben. „Tschuldigung, aber wenn du so enge Jeans trägst, steht der nun mal!“ Der Penis des Einen sind die Gedanken des Anderen. Und so geht mir mein Hirn auf die Nerven, wann immer ich es nicht gebrauchen kann. Was genau hemmt mich eigentlich heute, diesem Typen die Meinung zu sagen? Ich bin doch sonst auch nicht so zurückhaltend? Es ist noch gar nicht lange her, da bin ich dazwischen gegangen, als ein Typ seine Freundin schlagen wollte. Ich, eigentlich ja Lauch mit Bauch, mische mich ein, wenn ich etwas ungerecht finde. Ich erinnere mich, wie ich dem Mann etwas von Frauenrechten erklären wollte. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist Erstauen. Erstaunen darüber, dass ich plötzlich auf dem Boden sitze. Erstaunen darüber, dass mein Karo-Hemd neuerdings rote Flecken hat. Erstaunen darüber, dass die Frau, der ich eigentlich helfen wollte, nur verächtlich auf mich herabblickt, um sich dann bei ihrem starken Dominus unterhzuhaken. Nein, heute will ich den Stress nicht. Ich sehe meine Gesprächspartnerin an. Ist das ein Vorwurf in ihrem Blick? Hat sie womöglich erwartet, dass ich etwas tue, mich einmische, den Fliegenmann in seine Schranken weise? Jetzt bin ich nochmal sauer, aber diesmal auf sie. Kann sie sich nicht selbst zur Wehr setzen? Wieso erträgt sie das stoisch und stellt dann Erwartungen an Andere? Bevor ich explodiere, gehe ich lieber an die Bar. Ich brauche ein Wut-Bier und esse, während ich darauf warte, Wut-Erdnüsse aus einer Wut-Schale an dieser Wut-Theke. Der Fliegenmann hat sich inzwischen in die Frauengruppe integriert und hat, während er mit der einen Hand wild gestikulierend etwas erzählt, die andere auf dem Arsch seiner Nachbarin liegen. Die ganze Gruppe lacht. Es muss ein Witz gewesen sein. Die Frau mit der Fliege auf dem Arsch lacht nicht. Das Wut-Bier hat die Gedankenspirale leider nicht unterbrechen können. Der Fliegenmann, da bin ich mir sicher, wird heute nicht alleine nach Hause gehen. Wohl nicht mit einer Frau, auf der seine Hand landet, aber mit einer anderen. Ich bin reflektiert genug, um zu wissen, dass nicht nur die Schmeißfliegen bei den Frauen landen. Aber ich bin auch reflektiert genug, um mir darüber im Klaren zu sein, dass Schmeißfliegen ziemlich gute Blender sein können.
Der Fliegenmann weiß offensichtlich genau, wann er Grenzen überschreiten kann und wann nicht. Er weiß, dass viele Frauen zum passiven Ertragen sozialisiert werden. Er weiß, dass sie das Streichen über's Knie, das plötzliche Umfassen, sogar die Hand auf dem Arsch oft nicht abwehren. Er weiß, dass sie keine Szene machen, nicht negativ auffallen wollen. Und gerade beobachte ich, dass er offenbar auch weiß, wann er die Grenze ganz legal überschreiten darf. Eine der lachenden Damen fällt ihm um den Hals, und er nutzt die Gelegenheit, auch ihr scheinbar ganz zufällig über den Po zu streichen – diesmal ist es wohl erlaubt. Die andere, auf der er vorher laut summend seine Hand gelandet hatte, dreht sich genervt an ihrem Glas nippend weg. Eine dumme Sau, der Typ, denke ich. Aber ich stelle noch etwas fest. Etwas, das mich noch mehr anpisst, etwas, das aus meinem inzwischen fast leeren Wut-Bier ein Hate-Bier macht: Ich bin neidisch. Es erweckt in mir eine innere Krätze, aber es ist so. Dieser Typ wird heute trotz seiner ekligen Grenzüberschreitung nicht alleine nach Hause gehen. Und ich stehe alleine an der Bar mit Hate-Bier und muss dabei noch verdammt pissig aussehen. Was finden Frauen eigentlich an solchen Schmeißfliegen? Wie kann es sein, dass Typen wie ich, die schon als Kinder gelernt haben, im Sitzen zu pinkeln und weibliche Grenzen zu respektieren mit Hate-Getränken an Hate-Bars stehen, während Schmeißfliegen-Mensch-Hybriden Ärsche begrabschen und Frauen aufreißen? Ein Filmzitat kommt mir in den Sinn. „Wir sind eine Generation von Männern, die von Frauen aufgezogen wurden,“ sagt Tyler Durden in Fight Club. Das stimmt. Mein degenerierter Arschkrampenvater war ohnehin nie anwesend. Meine Mutter hat uns erzogen. Männliche Werte? Fehlanzeige. Das Ergebnis ist ein Mittdreißiger, der zwar Frauenrechte respektiert und den Feminismus hochhält, aber nie das Konzept des Flirtens verstanden hat. Modern und aufgeklärt soll der Mann von heute sein – aber auch bitte wie in den 50s irgendwie Gentleman. Aber nur das Gute aus den 50s bitte. Nicht das asoziale Frauenbild. Aber das asoziale Männerbild, das darf bleiben. Er soll sie ansprechen, er soll ihr ein Getränk ausgeben, er soll genau zum richtigen Zeitpunkt anhand kryptischer Signale erkennen, wann er ihre Hand halten, ihren Rücken streicheln, sie küssen darf. Und er soll das Risiko tragen, wenn er es nicht versteht. Ablehnung. Demütigung. Bei mir reichen keine kryptischen Signale. Bei mir baut ihr bitte schnell eine voll beleuchtete Flugzeuglandebahn. Die Schmeißfliege hat das durchschaut. Für mich hingegen wird dieser Kram wohl immer undurchdringlich bleiben, ein verworrenes Rätsel, wie die Gleichung zur Mol-Massenberechnung in der Schule. Ich muss schon wieder an Fight Club denken. Tyler Durden mit seiner Neandertaler-Philosophie ist eigentlich auch so eine Schmeißfliege. Aber so ein bisschen wollen wir Männer schon wie Durden sein. Was ist das für eine Welt, in der man neidisch ist auf eine doppelt fiktive, paranoid-schitzophrene Figur, nur weil die erfolgreich eine einmal fiktive, aber immerhin, manisch-depressive Borderlinerin vögelt? Einige Stunden später ist aus dem Hate-Bier ein Resignations-Bier geworden. Das achte. Oder neunte? Mir ist inzwischen natürlich klar, dass das alles irgendwie auch meine Schuld ist. Statt mich von Wut-Bier zu Hate-Bier zu hangeln, hätte ich Schmeißfliege Schmeißfliege sein lassen sollen. Soll er rumbrummen, sollen sie auf ihn fliegen, es sollte mir egal sein. Jetzt gerade knutscht er übrigens in einer Ecke mit einer Frau rum. Einer anderen, glaube ich. Die Fliege hat begonnen, ihre Eier abzulegen. Meine Gedanken sind jetzt an dem Punkt angekommen, an dem mir klar ist, dass bei allem berechtigten Ekel sogar Schmeißfliege keine Verantwortung für meine Probleme trägt. Und auch die Frauen sind sozialisiert, wie sie sozialisiert sind. Von Klein auf haben Mama, Papa, Disney, Hugh Grant und Julia Roberts ihnen erklärt, dass irgendwann ein Prinz oder wenigstens ein Prinzenäquvalent käme, um sie aus der Einsamkeit zu befreien. Und wie kann ich, der ich selbst kaum in der Lage bin, mich von meiner Sozialisierung zu lösen, das anderen vorwerfen? Allzuviel bringt mir diese Erkenntnis trotzdem nicht. Schuldverschiebung und einfache Antworten sind viel schöner. Ich könnte natürlich auch versuchen, ein Prinz oder Prinzenäquivalent zu werden. Da fällt mir allerdings nur das Einheiraten als Möglichkeit ein. Und warum das schwierig ist, dürfte an dieser Stelle des Textes bereits hinreichend geklärt sein. Trotzdem stelle ich mir vor, wie die Frau mit der die Schmeißfliege knutscht plötzlich aufsteht, ihm den Inhalt ihres Glases ins Gesicht ballert und davon stürmt. Aber das wird nicht passieren. Denn die Crux an poetischer Gerechtigkeit ist, dass sie vorrangig poetisch ist.
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