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Neues aus Absurdistan

  • David Hinder
  • 17. Okt. 2017
  • 3 Min. Lesezeit

Maximal katastrophal

Mit der Selbsterkenntnis ist es so eine Sache. Sie kann uns weiterbringen, oder gänzlich lähmen. Wir können sie annehmen, oder ablehnen. Wir können aus ihr lernen, oder in ihr versinken. Derzeit ist mir nach versinken. Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich emotional angegriffen. Das Gefühl ist kafkaesk, vielleicht sogar nihilistisch. Es ist allerdings kein unbegründetes Mimimi, Selbstmitleid das nur den Selbstzweck hat, sich darin zu suhlen. Nein. Ich fühle mich wirklich gerade so, als gebe es keine Lösung für das Problem, das durch den Erkenntnisprozess der letzten Monate ins Licht gezerrt wurde. Menschen mit Unverträglichkeiten gegen potentiell Negatives schalten jetzt bitte auf Regenbogen-TV. Der Reihe nach. Ich war mal wieder „gefriendzoned“ worden. Spart euch die Luft, die ihr wahrscheinlich gerade scharf durch die Zähne einatmet – es geht nicht darum. Nicht nur. Die Geschichte ist Monate her und war nicht allzu weit fortgeschritten. Nichts, was nicht zu verkraften gewesen wäre. Trotzdem: etwas gewurmt hatte mich das schon. Nicht so sehr wegen ihr, sondern eher, weil mir das stetig passiert. Die Friendzone ist ein roter Faden, der sich fett und grell durch mein Leben zieht, unübersehbar, wie die blutige Schleifspur eines sich mühselig weg schleppenden Verletzten. Ich bin trotzdem nicht der Typ, der seelisch tödlich verletzt sofort jeden Kontakt einstellt, um sich in der einsamen Höhle die Herzenswunden zu lecken. Kopfmensch, der ich nun mal bin, komme ich fast immer ohne irrationale Schuldzuweisungen aus und kann, wenn das Gefühl noch frisch und nicht allzu tief ist, den emotionalen Fluss tatsächlich in ein freundschaftliches Bett umlenken. So auch hier. Ich hatte dennoch das Bedürfnis, ihr meine Betroffenheit zu erklären, und verwies, in meiner Unbeholfenheit, auf ein Gedicht, in welchem ich meine Erfahrungen zum Thema Liebe zusammengefasst hatte. Die Kurzfassung: ich muss eine Frau wirklich gut kennen, ehe sich echtes Interesse, über das erste Kennenlernen hinaus, bilden kann. Das gesamte Gedicht findet ihr hier:

http://terminsel.wixsite.com/reverse/single-post/2017/02/23/Die-Liebe

Sie hätte schon davon gehört, meinte sie. Das Phänomen habe sogar einen Fachbegriff, nur komme sie gerade nicht drauf. Phänomen? Fachbegriff? Wie bitte? Bisher hielt ich mich immer für den klassischen Hetero, der einfach zu selten ausreichend sexuelle Anziehung aufgebaut bekommt. Altes Lied. Nix Neues und ganz sicher kein besonderes Phänomen. So dachte ich. Zwischen Klausurphase, neuen Bekanntschaften, viel Arbeit und der Geschäftsgründung meiner Schwester musste sich die weitere Erkenntnis vorerst in den Hinterkopf zurückziehen. Manchmal überlegte ich, was wohl genau gemeint gewesen sein könnte, reflektierte alte Erlebnisse – aber wo keine Zeit, da kein Ergebnis. Das Leben hielt mich auf Trab. Nun ist die Klausurphase vorbei, das Geschäft meiner Schwester ist fertig, kurz: ich habe Zeit. Also googelte ich heute nach diesem Phänomen. Es zu lassen, wäre wohl klüger gewesen. „Demisexuelle sind Menschen, die nur dann sexuelle Anziehung empfinden, wenn sie eine starke emotionale Bindung zu jemandem aufgebaut haben,“ las ich und war erst verdutzt. Hatte sie das gemeint? Nein, denn ich bin durchaus in der Lage, sexuelles Interesse auch für Frauen zu entwickeln, die ich nur körperlich attraktiv finde. Selten. Sehr selten. Aber immerhin. Mir ging es doch eher um die Frage, der Emotionalität. Warum das mit dem Verlieben bei mir andersherum abläuft, als bei den Meisten. Warum ich eine Frau erst gut kennen muss, ehe es funkt. Gemeinhin teilt man Anziehung in zwei Stufen ein, die primäre und die sekundäre. Der alte Spruch, das Aussehen öffne die Türe, der Charakter bestimme, ob man bleibe, erklärt sich so tatsächlich. Primär sind Optik, Mimik, Gestik, etc., wohingegen Humor und Charaktereigenschaften sekundär sind. Eine demisexuelle Person konzentriere sich auf die sekundäre Anziehung – und ja, das trifft fast immer bei mir zu. Ich las weiter – und erschrak. Selten konnte ich mich irgendwo so sehr wiederfinden. Sex als Gesprächsthema verunsichert, reine Triebhaftigkeit ist unzureichend, eine emotionale Bindung wirkt wie eine Potenz, Pornos und sexy Bilder sind nur bedingt reizvoll, auf Partnersuche sind auf den ersten Blick fast immer alle uninteressant, Flirten ist eine mühselige Phrasendrescherei, in Partnerschaften sind alle anderen Menschen reizlos – um die wichtigsten Punkte zu nennen. „Faust auf's Auge“ war hier wohl die passende Metapher – zumal ich mich wirklich gerade wie ausgeknockt fühle. Natürlich: so etwas selbst zu „diagnostizieren“ ist letztendlich immer unsicher. Aber irgendwie habe ich hier das deutliche Gefühl, dass ich mich nicht irre. Bevor jetzt alle meine weiblichen Freunde vor Schreck auf Abstand gehen: keine Sorge. Wenn sich da bis jetzt nichts aufgebaut hat, wird es das wohl auch nicht. So wenig, wie sich andere Menschen in jeden hübschen Körper verknallen, verknalle ich mich in jede Frau, der ich mich irgendwie nahe fühle. Ihr könnt aufatmen. Das sei doch alles nicht weiter schlimm, meinte eine Bekannte. Ach nein? Wenn du als Mann wirklich erst immer eine Frau intensiv kennenlernen musst, ehe du dir deiner Gefühle sicher sein kannst, wo landest du dann fast immer? In der eingangs erwähnten Friendzone. Die tödliche Falle, Verursacher des blutig-roten Fadens.

Maximal katastrophal.


 
 
 

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