Neues aus Absurdistan – Singleerlebnisse
- David Hinder
- 27. Aug. 2017
- 2 Min. Lesezeit
Mittelfeld

Der Spieler hat den Ball, tänzelt geschickt um den ersten Gegner herum und kontert zwei weitere aus. Zielstrebig erhöht er sein Tempo, rennt direkt auf das gegnerische Tor zu. Die Gegner lässt er abgehängt hinter sich. Als Zuschauer kann ich das überhebliche Grinsen des Spielers zwar nicht sehen, aber ich kann es mir denken. Das Jubeln der Fans ist ein Spiegel dafür. Der Spieler überquert die Mittelfeldlinie, den Ball immer noch im sicheren Gewahrsam. Das Tor kommt näher und näher, die Verteidiger ziehen sich schon zusammen. Und dann rennt er vor eine Mauer. Nein, das ist keine Metapher für in Reih und Glied aufgestellte Kontrahenten. Ich meine eine Mauer. Eine richtige, echte Mauer. Aus Stein. Während sich der Spieler blutend am Boden windet, greift ein Gegner den Ball ab und das Spiel geht weiter. Und ich, der Zuschauer, frage mich, woher dieses Steinmonument plötzlich kam, warum der Schiedsrichter nicht unterbricht und ob das überhaupt regelkonform ist. Dann wache ich auf. Einen Moment brauche ich um zu realisieren, dass da keine Tribüne ist, kein Spieler, kein Jubel - nur meine kleine Wohnung. Aber die Mauer ist da. Vor die war ich nämlich am Abend davor gerannt. Mal wieder. Ich betaste meine Nase, um zu prüfen, ob die wirklich gebrochen ist. Natürlich ist sie das nicht. Die Mauer war ja auch nicht echt. Diese war eine Metapher. Aber sie tauchte trotzdem allzu plötzlich vor mir auf. Das ist nämlich der typische Ablauf. Du lernst jemanden kennen, ziehst ihre Aufmerksamkeit auf dich. Man beginnt, Zeit miteinander zu verbringen, ob virtuell oder in echt ist dabei ziemlich schnuppe. Man versteht sich, lacht miteinander. Wenn ihre Nachrichten kommen, fühlst du dieses Kribbeln, ein Gefühl, das immer seltener vorkommt, je älter man wird. Ein wertvolles Gefühl. Dann kommst du ins Mittelfeld. Die Gespräche werden etwas ernster, weil beide merken, das könnte echt was werden. Und dann die Mauer. Bumm. Plötzlich sitzt du perplex auf deinem Arsch und fasst dir an die blutende Seele. Dieses unüberwindbare Hindernis kann Vieles sein. Erwartungen, die auseinander gehen. Sexuelle Vorlieben, die niemals, nie, never zueinander passen. Lebensentwürfe, die in gegenseitige Richtungen abdriften. Politische und gesellschaftliche Ansichten, die niemals vereinbar miteinander sind. Man könnte meinen, einige dieser Dinge kann man zumindest vorher erkennen. Wahrscheinlich ist das auch so. Aber sobald dieses Kribbeln einsetzt, kommt auch der Tunnelblick. Man blendet die Mauer wahrscheinlich aus, sieht nur, was man sehen will. Selber Schuld. Leider.
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