Opfer
- David Hinder
- 20. Feb. 2017
- 2 Min. Lesezeit
Sie lag weinend in Manuels Armen. Ohne Hemmung schossen die Tränen aus ihr heraus und durchnässten seinen Pullover. Er drückte sie an sich, unfähig etwas zu sagen. Ich hatte es dir gesagt, dachte er.
Du wolltest nicht hören. Ich hatte es dir gesagt. Der Typ hatte sie vergewaltigt. Nicht die Art mit Gewalt und Schlägen. Sondern die, bei der er einfach nicht aufhörte. Manuel wollte sich die grausigen Details nicht vorstellen. Aber sein Geist tat ihm diesen Gefallen nicht. Ich wusste, was das für ein Typ ist, aber du wolltest nicht hören. Sie hatte ihn im Club kennen gelernt. Er flirtete heftig. Ihr gefiel das. Sie hielt sich für hässlich, unattraktiv. Natürlich konnte sie nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Irgendwann versuchte er sie zu küssen. Sie wich aus. Er legte den Arm um sie, bedrängte sie. Sie wand sich, wehrte ihn ab. Lachend. Manuel hatte alles beobachtet. Zornig. Machtlos. Die Denkstrukturen des Typen waren ihm sofort klar. Narzist. Egomane. Akzeptiert keine Grenzen. Ein paar Tage später wollte sie den Typen wieder sehen. Manuel protestierte, erklärte ihr seine Bedenken. Sie stritten sich. Vergeblich. Und jetzt lag sie in seinen Armen und weinte. Sie war inzwischen eingeschlafen. Manuel stand im Bad starrte voller Abscheu auf diese weichen Gesichtszüge im Spiegel. Ich hebe die Seelenscherben auf. Wie immer. Ich bin immer da, höre zu. Sie wählt sich diese Typen und ich stehe neben ihr. Aber sie sieht mich nicht. Sie sieht nur den Scherbensammler. Seine Abscheu vor sich selbst stieg.
Ein Egoist, dachte er. Ich bin ein Egoist. Der Typ hat es durchschaut. Er nimmt sich, was er will, ohne Konsequenzen. Und ich? Ich sammle die Scherben auf. Und bin insgeheim ein Egoist. Manchmal will ich auch ein Schurke sein. Mir einfach nehmen, was ich will. Er ging zurück ins Wohnzimmer. Sie lag auf dem Sessel, zusammen gerollt, friedlich, hilflos, schlafend. Ich liebe sie, dachte er. Aber ich werde nie mit ihr zusammen sein. Jetzt erst recht nicht. Für einen Moment kam er wieder, der Gedanke an die Skrupellosigkeit. Er trat an den Sessel heran. Dann nahm er eine Decke und legte sie sanft über sie. Gedemütigt und voller widersprüchlicher Abscheu vor sich selbst ging er in sein Schlafzimmer.
Comments